Das Rätsel im Haus Nüssli

veröffentlicht am Montag, 04.08.2014

NZZ


Das Rätsel im Haus Nüssli

 

 

Das Haus Nüssli ist ein ehrwürdiges Bauernhaus in Nesslau im oberen Toggenburg, ein Strickbau mit prächtig geschwungenem Schweifgiebel. Es gehört heute der Gemeinde Nesslau, die es auch für Trauungen nutzt. Das Haus Nüssli ist Ausgangspunkt eines kleinen politischen Sommertheaters im Kanton St. Gallen. In der Hauptrolle: ein etwas naiver Gemeindepräsident.

 

Am 15. April dieses Jahres versammelte sich die sankt-gallische Regierung samt Sekretär und Protokollanten im Haus Nüssli, um über ihre Geschäfte zu beraten. Zweimal im Jahr trifft sie sich ausserhalb des St. Galler Regierungsgebäudes zur Sitzung, um sodann Land und Leute zu spüren. Wie üblich bei solcher Gelegenheit folgte nach der Sitzung sogleich ein Umtrunk mit Gemeindepräsidentinnen und -präsidenten der Region. Unverzüglich begab sich die Regierung deshalb in den «Ochsen».

 

Irgendwie müssen dabei vertrauliche Regierungspapiere in die Hände des Gemeindepräsidenten von Nesslau, Kilian Looser, gelangt sein. Er sagt, sie seien im Haus Nüssli liegengeblieben. Der sankt-gallische Staatssekretär Canisius Braun sagt, man stelle nach Sitzungsende jeweils sicher, dass gewiss nichts liegenbleibe, gerade bei Landsitzungen.

 

Kilian Looser jedenfalls kam, wie auch immer, in den Besitz regierungsrätlicher Akten. Diese hatten, welcher Zufall, ein hoch umstrittenes Geschäft zum Inhalt: den Standortentscheid zur im toggenburgischen Wattwil beheimateten Kantonsschule, die neu gebaut werden muss. Das aufstrebende Linthgebiet mit Rapperswil-Jona fordert vehement, die Schule in seine Region südlich des Rickens zu verlegen; die Regierung spricht sich für den Verbleib in Wattwil aus. Entscheiden wird letztlich das Stimmvolk. Kilian Looser fand in seinen Händen nun also unversehens, neben anderem vertraulichem Papier, eine regierungsinterne Mail von Regierungsrat Benedikt Würth aus Rapperswil-Jona, in der von einer bis dahin unter Verschluss gehaltenen externen Studie die Rede war. Sie plädierte für einen neuen Standort südlich des Rickens in Uznach.

Looser überlegte, dann ging er, um Transparenz zu schaffen, zur «Ostschweiz am Sonntag», die das Material schlagzeilenwirksam am 27. April publizierte. Danach ging Looser zur sankt-gallischen Staatskanzlei und gab die Papiere zurück. Die juristische Folge ist rasch erzählt: Das Untersuchungsamt Uznach verurteilte ihn mit Strafbefehl vom 24. Juni wegen Amtsgeheimnisverletzung zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu 160 Franken und einer Busse von 1000 Franken. Looser hat den Strafbefehl akzeptiert.

 

Die Identität von Whistleblower Looser wurde indes erst bekannt, nachdem die «Ostschweiz am Sonntag» am 20. Juli über den Strafbescheid berichtet und ihre Quelle gleich auch einen Spalt weit preisgegeben hatte: Es handle sich, schrieb sie, um den Gemeindepräsidenten einer Ortschaft im Toggenburg. Spekulationen schossen ins Kraut, ein Kantonsrat verlangte umfassende Akteneinsicht. Looser blieb nun am vergangenen Sonntag, frisch zurück aus den Ferien, nichts anderes übrig, als sich zu outen.

 

Die politische Folgen sind nicht absehbar. Während Looser, der für den Verbleib der Kantonsschule in Wattwil eintritt, für seinen Gang an die Öffentlichkeit auch Verständnis und Lob entgegennimmt, bleibt das Rätsel vorerst ungelöst, weshalb die vertraulichen Akten aus der Regierungssitzung im Haus Nüssli in seine Hände geraten konnten. Die Regierung will dem in einer Woche, an ihrer ersten Sitzung nach der Sommerpause, nachgehen.

 

Manch alte Häuser behalten ihre Geheimnisse. Vielleicht war es ein Windstoss, der in die Akten fuhr. Vielleicht ein Spuk.

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