Die Kanti Wattwil demolieren

veröffentlicht am Samstag, 24.05.2014

Toggenburger Tagblatt

PDF: Die Kanti Wattwil demolieren


Die Kanti Wattwil demolieren

von Hans Peter Dreyer

 

Nicht mehr allgemein bewusst ist, dass in den 60er-Jahren auf dem Land Kantonsschulen gebaut worden sind, um die «Begabtenreserven» besser auszuschöpfen. Auch im Toggenburg wollten die St. Galler zukünftig mehr Ärzte und Primarlehrer rekrutieren (Noch waren die Frauen nicht gleichberechtigt!) und eröffneten 1970 die Kantonsschule in Wattwil. Neben unzähligen Sparmassnahmen, Lehrplan-, Reglements- und Personalwechseln hat die Gymnasialabteilung zwei grosse Eingriffe überstanden: Zuerst die Revision des Maturitätsanerkennungsreglements mit der Abschaffung der Typen B, C, D und des Lehrerseminars, denn mit einem Primarlehrerdiplom konnte man an der Uni Zürich studieren. Dann die Reduktion des Einzugsgebiets durch die Schaffung der kantonsübergreifenden Mittelschule in Wil. Alte Lehrpersonen wie ich haben in ihrer Laufbahn in acht verschiedenen Gebäuden vor und nach diversen Renovationen unterrichtet. Das war oft ärgerlich, erlaubte aber trotzdem gute Schule. Erst jetzt wird der Lebensnerv getroffen: Die Kanti Wattwil soll demoliert werden.

 

Der Wunsch nach Demolierung kommt zuerst von architektonisch-bautechnischer Seite. Nicht vernünftig sanierbar sei der Bau, dessen Architektur sich durch besondere Qualität auszeichne. – Ob die Behörden vor 50 Jahren einen weisen Entscheid getroffen haben, als sie sich für den verwinkelten Grundriss, die Säulenfassaden und die grünen Klinkertreppen entschieden haben, bleibe dahingestellt. Wer drin lebt, schätzt die Atmosphäre. Dass die Bauweise vor dem Erdölschock das Hauptgebäude der Kanti zu einem Energieverschwender prädestiniert, haben wir schon 1973 in einem kleinen Projekt im Lehrerseminar festgestellt. Trotzdem fragt man sich, ob die Gebäude nach der Erweiterung und Sanierung in den 90er-Jahren dem Erdboden gleichgemacht werden müssen.

 

Der zweite Angriff kommt aus der regionalpolitischen Ecke: Unsinnig sei es, die Schule ausserhalb des Schwerpunkts des Einzugsgebiets zu belassen. Zeitlich und seelisch unzumutbar sei es für Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, an jedem Schultag zweimal durch den Rickentunnel zu fahren. – Hier will ich bloss anmerken, dass Regionalpolitik immer ein Geben und Nehmen ist. In den vergangenen Jahrzehnten hat das mittlere und obere Toggenburg im kantonalen Kräftepolygon laufend an Gewicht verloren. Dass nach der Matur die gleichen Personen während der Studienzeit meist wesentlich längere Pendlerwege zu den Hochschulen klaglos in Kauf nehmen, schwächt hingegen das Schwerpunktargument wesentlich.

 

Der neueste Schlag kommt von Rolf Dubs. Man könne die Kanti mit gewissen Einschränkungen auch mit bloss 300 Lernenden führen, wenn man sie mit der Berufsschule zusammenlege. – Das Sparpotenzial bei der Verwaltung ist zweifellos gering. Zusammenarbeit im Infrastrukturbereich (Informatik, Sportanlagen, Aula und Mensa) ist möglich und wird teilweise praktiziert. Doch schon bei der Bibliothek und erst recht bei den Fachsammlungen gibt es nicht einfach Synergien. Als «Synergiegewinn» werden oft verschleiernd konkrete Sparmassnahmen benannt, und diese bedeuten schlicht «Qualitätsabbau». Übrigens hat schon der frühere HSG-Professor und Bildungsdirektor Buschor im Kanton Zürich Zentren mit Berufs- und Mittelschulen unter einem Dach schaffen wollen. Die Idee ist spurlos verschwunden, denn die Stärke unseres dualen Systems ist, dass beide Seiten für verschiedene Jugendliche optimale Lernwege anbieten können. Gerade weil mit der Berufsmatur und der Passerelle der akademische Weg für alle offen ist, können wir auf die Highschool verzichten. Die Fachmittelschule mit Fachmaturität ist ein Element unseres Bildungssystems, das im Schnittbereich von Berufs- und Allgemeinbildung liegt und dementsprechend zusammen mit den Vollzeit-Berufsmaturitätsschulen, den Handelsschulen usw. immer wieder zu Diskussionen Anlass gibt. Klassen mit einem Schülermix zu füllen, bringt zwar Einsparungen bei den Lehrerlöhnen, aber garantiert auch Qualitätsverlust.

Im Gegensatz zu Rolf Dubs bin ich entschieden der Meinung, dass ein Rumpfgymnasium mit nur drei Klassen pro Jahrgangsstufe zu einer Qualitätseinbusse führt, die sich die öffentliche Schule nicht leisten darf. Entsprechend dem Maturitätsreglement und den Vorgaben des Kantons bietet das Gymnasium in Wattwil acht Maturitätsschwerpunkte und zwölf Ergänzungsfächer an. Dieses Spektrum müsste bei 300 Schülern massiv eingeschränkt werden: Zweisprachige Matur, Latein, Italienisch, Gestalten, Physik und Anwendungen der Mathematik streichen? Abgesehen von der Opposition der Direktbetroffenen würde Wattwil für viele Lehrpersonen, namentlich im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich, unattraktiv und sie wechselten an eine interessantere Schule. Damit würde die Qualität im Kerngeschäft sinken, und nicht bloss im erfreulich sichtbaren Umfeld wie dem Jugendorchester «il mosaico» oder der Wissenschaftsgruppe Academia. Ein Vergleich mit den kleinen Privatgymnasien punkto Qualität ist problematisch. Es gibt auf der einen Seite die kleinen feinen internationalen, mit einem Internat für die gehobene Gesellschaft. Und daneben stehen mässige Institute mit nur zwei wenig anspruchsvollen Schwerpunkten.

 

Vierzig Jahre lang hat die Kantonsschule Wattwil ihren ursprünglichen Zweck gut erfüllt, nicht immer perfekt, aber doch so, dass sie 2008 in der ETH-Rangliste zusammen mit den anderen St. Galler Gymnasien im vorderen Drittel stand, weit vor Pfäffikon und Schwyz. Wollen wir nun amerikanische Verhältnisse mit guten Schulen in Gegenden mit hohem Steueraufkommen und billige Schulen dort, wo die Bodenpreise gering sind? – Wer die Kanti nicht qualitativ demolieren will, muss ihrem Gymnasialzweig eine Zukunft mit 600 Lernenden zubilligen.

 

Hans Peter Dreyer war Mitglied der schweizerischen Maturitätskommission, Präsident des schweizerischen Gymnasiallehrervereins, Physikdidaktiker an ETH und Uni Zürich und unterrichtete ab 1972 an sämtlichen Abteilungen der Kantonsschule Wattwil.


Die Kanti Wattwil demolieren (Samstag, 24.05.2014)

Alle Aktuellbeiträge